Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst
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Publié le 08 décembre 2010
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The Project Gutenberg EBook of Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, by Ferruccio Busoni This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org
Title: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst Author: Ferruccio Busoni Release Date: February 23, 2008 [EBook #24677] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ENTWURF EINER NEUEN ÄSTHETIK ***
Produced by Jana Srna and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
Anmerkungen zur Transkription: Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen, lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Änderungen sind im Text mit einer strichlierten blauen Linie gekennzeichnet, der Originaltext erscheint beim Überfahren mit der Maus.
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Dem Musiker in Worten
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verehrungsvoll und freundschaftlich
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„Was sucht Ihr? Sagt! Und was erwartet Ihr?“ „Ich weiß es nicht; ich will das Unbekannte! Was mir bekannt, ist unbegrenzt. Ich will darüber noch. Mir fehlt das letzte Wort.“
„Der mächtige Zauberer“.
„Ich fühlte … daß ich kein englisches und kein lateinisches Buch schreiben werde: und dies aus dem einen Grund … nämlich weil die Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben, sondern auch zu denken mir vielleicht gegeben wäre, weder die lateinische, noch die englische, noch die italienische und spanische ist, sondern eine Sprache, von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde.“ Hugo von Hofmannsthal, „Ein Brief“.
er literarischen Gestaltung nach recht locker aneinander gefügt, Dsind diese Aufzeichnungen in Wahrheit das Ergebnis von lange und langsam gereiften Überzeugungen. In ihnen wird ein größtes Problem mit scheinbarer Unbefangenheit aufgestellt, ohne daß der Schlüssel zu seiner letzten Lösung gegeben werde, weil das Problem auf Menschenalter hinaus nicht – wenn überhaupt – lösbar ist. Aber es begreift in sich eine unaufgezählte Reihe minderer Probleme, auf die ich das Nachdenken derjenigen lenke, die es betrifft. Denn recht lange schon hatte man in der Musik ernstlichem Suchen nicht sich hingegeben. Wohl entsteht zu jeder Zeit Geniales und Bewunderungswertes, und ich stellte mich stets in die erste Reihe, die vorüberziehenden Fahnenträger freudig zu begrüßen; aber mir will es scheinen, daß die mannigfachen Wege, die beschritten werden, zwar in schöne Weiten führen, aber nicht – nach oben.
Der Geist eines Kunstwerkes, das Maß der Empfindung, das Menschliche, das in ihm ist – sie bleiben durch wechselnde Zeiten unverändert an Wert; die Form, die diese drei aufnahm, die Mittel, die sie ausdrückten, und der Geschmack, den die Epoche ihres Entstehens über sie ausgoß, sie sind vergänglich und rasch alternd. Geist und Empfindung bewahren ihre Art, so im Kunstwerk wie im
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Menschen; technische Errungenschaften, bereitwilligst erkannt und bewundert, werden überholt, oder der Geschmack wendet sich von ihnen gesättigt ab. – Die vergänglichen Eigenschaften machen das „Moderne“ eines Werkes aus; die unveränderlichen bewahren es davor, „altmodisch“ zu werden. Im „Modernen“ wie im „Alten“ gibt es Gutes und Schlechtes, Echtes und Unechtes. Absolut Modernes existiert nicht – nur früher oder später Entstandenes; länger blühend oder schneller welkend. Immer gab es Modernes, und immer Altes. – Die Kunstformen sind um so dauernder, je näher sie sich an das Wesen der einzelnen Kunstgattung halten, je reiner sie sich in ihren natürlichen Mitteln und Zielen bewahren. Die Plastik verzichtet auf den Ausdruck der menschlichen Pupille und auf die Farben; die Malerei degradiert, wenn sie die darstellende Fläche verläßt und sich zur Theaterdekoration oder zum Panoramabild kompliziert; – die Architektur hat ihre Grundform, die von unten nach oben zu schreiten muß, durch statische Notwendigkeit vorgeschrieben; Fenster und Dach geben notgedrungen die mittlere und abschließende Ausgestaltung; diese Bedingungen sind an ihr bleibend und unverletzbar; – die Dichtung gebietet über den abstrakten Gedanken, den sie in Worte kleidet; sie reicht an die weitesten Grenzen und hat die größere Unabhängigkeit voraus: aber alle Künste, Mittel und Formen erzielen beständig das eine, nämlich die Abbildung der Natur und die Wiedergabe der menschlichen Empfindungen. Architektur, Plastik, Dichtung und Malerei sind alte und reife Künste; ihre Begriffe sind gefestigt und ihre Ziele sicher geworden; sie haben durch Jahrtausende den Weg gefunden und beschreiben, wie ein Planet, regelmäßig ihren Kreis.[1] Ihnen gegenüber ist die Tonkunst das Kind, das zwar gehen gelernt hat, aber noch geführt werden muß. Es ist eine jungfräuliche Kunst, die noch nichts erlebt und gelitten hat. Sie ist sich selbst noch nicht bewußt dessen, was sie kleidet, der Vorzüge, die sie besitzt, und der Fähigkeiten, die in ihr schlummern: wiederum ist sie ein Wunderkind, das schon viel Schönes geben kann, schon viele erfreuen konnte und dessen Gaben allgemein für völlig ausgereift gehalten werden.
Die Musik als Kunst, die sogenannte abendländische Musik, ist kaum vierhundert Jahre alt, sie lebt im Zustande der Entwicklung; vielleicht im allerersten Stadium einer noch unabsehbaren Entwicklung, und wir sprechen von Klassikern und geheiligten Traditionen![2]Spricht doch bereits ein Cherubini, in seinem Lehrbuch
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des Kontrapunktes, von „den Alten“ . Wir haben Regeln formuliert, Prinzipien aufgestellt, Gesetze vorgeschrieben – – – wir wenden die Gesetze der Erwachsenen auf ein Kind an, das die Verantwortung noch nicht kennt! So jung es ist, dieses Kind, eine strahlende Eigenschaft ist an ihm schon erkennbar, die es vor allen seinen älteren Gefährten auszeichnet. Und diese wundersame Eigenschaft wollen die Gesetzgeber nicht sehen, weil ihre Gesetze sonst über den Haufen geworfen würden. Das Kind es schwebt! Es berührt nicht die Erde mit seinen Füßen. Es ist nicht der Schwere unterworfen. Es ist fast unkörperlich. Seine Materie ist durchsichtig. Es ist tönende Luft. Es ist fast die Natur selbst. Es ist frei.
Freiheit ist aber etwas, das die Menschen nie völlig begriffen noch gänzlich empfunden haben. Sie können sie nicht erkennen noch anerkennen. Sie verleugnen die Bestimmung dieses Kindes und fesseln es. Das schwebende Wesen muß geziemend gehen, muß, wie jeder andere, den Regeln des Anstandes sich fügen; kaum, daß es hüpfen darf – indessen es seine Lust wäre, der Linie des Regenbogens zu folgen und mit den Wolken Sonnenstrahlen zu brechen.
Frei ist die Tonkunst geboren und frei zu werden ihre Bestimmung. Sie wird der vollständigste aller Naturwiderscheine werden durch die Ungebundenheit ihrer Unmaterialität. Selbst das dichterische Wort steht ihr an Unkörperlichkeit nach; sie kann sich zusammenballen und kann auseinanderfließen, die regloseste Ruhe und das lebhafteste Stürmen sein; sie hat die höchsten Höhen, die Menschen wahrnehmbar sind – welche andere Kunst hat das? –, und ihre Empfindung trifft die menschliche Brust mit jener Intensität, die vom „Begriffe“ unabhängig ist. Sie gibt ein Temperament wieder, ohne es zu beschreiben, mit der Beweglichkeit der Seele, mit der Lebendigkeit der aufeinanderfolgenden Momente; dort, wo der Maler oder der Bildhauer nur eine Seite oder einen Augenblick, eine „Situation“ darstellen kann und der Dichter ein Temperament und dessen Regungen mühsam durch angereihte Worte mitteilt. Darum sind Darstellung und Beschreibung nicht das Wesen der Tonkunst; somit sprechen wir die Ablehnung der Programmusik aus und gelangen zu der Frage nach den Zielen der Tonkunst.
Absolute Musik! Was die Gesetzgeber darunter meinen, ist vielleicht das Entfernteste vom Absoluten in der Musik. „Absolute Musik“ ist ein Formens iel ohne dichterisches Pro ramm, wobei die
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Form die wichtigste Rolle abgibt. Aber gerade die Form steht der absoluten Musik entgegengesetzt, die doch den göttlichen Vorzug erhielt zu schweben und von den Bedingungen der Materie frei zu sein. Auf dem Bilde endet die Darstellung eines Sonnenunterganges mit dem Rahmen; die unbegrenzte Naturerscheinung erhält eine viereckige Abgrenzung; die einmal gewählte Zeichnung der Wolke steht für immer unveränderlich da. Die Musik kann sich erhellen, sich verdunkeln, sich verschieben und endlich verhauchen wie die Himmelserscheinung selbst, und der Instinkt bestimmt den schaffenden Musiker, diejenigen Töne zu verwenden, die in dem Innern des Menschen auf dieselbe Taste drücken und denselben Widerhall erwecken, wie die Vorgänge in der Natur. Absolute Musik ist dagegen etwas ganz Nüchternes, welches an geordnet aufgestellte Notenpulte erinnert, an Verhältnis von Tonika und Dominante, an Durchführungen und Kodas. Da höre ich den zweiten Geiger, wie er sich eine Quart tiefer abmüht, den gewandteren ersten nachzuahmen, höre einen unnötigen Kampf auskämpfen, um dahin zu gelangen, wo man schon am Anfang stand. Diese Musik sollte vielmehr die architektonische heißen, oder die symmetrische, oder die eingeteilte, und sie stammt daher, daß einzelne Tondichter ihren Geist und ihre Empfindung in eine solche Form gossen, weil es ihnen oder der Zeit am nächsten lag. Die Gesetzgeber haben Geist, Empfindung, die Individualität jener Tonsetzer und ihre Zeit mit der symmetrischen Musik identifiziert und schließlich – da sie weder den Geist, noch die Empfindung, noch die Zeit wiedergebären konnten – die Form als Symbol behalten und sie zum Schild, zur Glaubenslehre erhoben. Die Tondichter suchten und fanden diese Form als das geeignetste Mittel, ihre Gedanken mitzuteilen; sie entschwebten – und die Gesetzgeber entdecken und verwahren Euphorions auf der Erde zurückgebliebene Gewänder: „Noch immer glücklich aufgefunden! Die Flamme freilich ist verschwunden, Doch ist mir um die Welt nicht leid. Hier bleibt genug, Poeten einzuweihen, Zu stiften Gold- und Handwerksneid; Und kann ich die Talente nicht verleihen, Verborg ich wenigstens das Kleid.“ Ists nicht eigentümlich, daß man vom Komponisten in allem Originalität fordert und daß man sie ihm in der Form verbietet? Was Wunder, daß man ihn – wenn er wirklich originell wird – der Formlosigkeit anklagt. Mozart! den Sucher und den Finder, den großen Menschen mit dem kindlichen Herzen, ihn staunen wir an, an ihm hängen wir; nicht aber an seiner Tonika und Dominante, seinen Durchführungen und Kodas.
Solche Befreiungslust erfüllte einen Beethoven, den romantischen Revolutionsmenschen, daß er einen kleinen Schritt in
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der Zurückführung der Musik zu ihrer höheren Natur aufstieg; einen kleinen Schritt in der großen Aufgabe, einen großen Schritt in seinem eigenen Weg. Die ganz absolute Musik hat er nicht erreicht, aber in einzelnen Augenblicken geahnt, wie in der Introduktion zur Fuge der Hammerklavier-Sonate. Überhaupt kamen die Tondichter in den vorbereitenden und vermittelnden Sätzen (Vorspielen und Übergängen) der wahren Natur der Musik am nächsten, wo sie glaubten, die symmetrischen Verhältnisse außer acht lassen zu dürfen und selbst unbewußt frei aufzuatmen schienen. Selbst einen so viel kleineren Schumann ergreift an solchen Stellen etwas von dem Unbegrenzten dieser Pan-Kunst – man denke an die Überleitung zum letzten Satze der D-Moll-Sinfonie –, und Gleiches kann man von Brahms und der Introduktion zum Finale seiner ersten Sinfonie behaupten. Aber sobald sie die Schwelle des Hauptsatzes beschreiten, wird ihre Haltung steif und konventionell wie die eines Mannes, der in ein Amtszimmer tritt. Neben Beethoven ist Bach der „Ur-Musik“ am verwandtesten. Seine Orgelfantasien (und nicht die Fugen) haben unzweifelhaft einen starken Zug von Landschaftlichem (dem Architektonisch Entgegenstehenden), von Eingebungen, die man „Mensch und Natur“ überschreiben möchte[3] gestaltet es sich am ihm; bei unbefangensten, weil er noch über seine Vorgänger hinwegschritt – (wenn er sie auch bewunderte und sogar benutzte) – und weil ihm die noch junge Errungenschaft der temperierten Stimmung vorläufig unendlich neue Möglichkeiten erstehen ließ. Darum sind Bach und Beethoven[4] als ein Anfang aufzufassen und nicht als unzuübertreffende Abgeschlossenheiten. Unübertrefflich werden wahrscheinlich ihr Geist und ihre Empfindung bleiben; und das bestätigt wiederum das zu Beginn dieser Zeilen Gesagte. Nämlich, daß die Empfindung und der Geist durch den Wechsel der Zeiten an Wert nichts einbüßen, und daß derjenige, der ihre höchsten Höhen ersteigt, jederzeit über die Menge ragen wird.
Was noch überstiegen werden soll, ist ihre Ausdrucksform und ihre Freiheit. Wagner, ein germanischer Riese, der im Orchesterklang den irdischen Horizont streifte, der die Ausdrucksform zwar steigerte, aber in ein System brachte (Musikdrama, Deklamation, Leitmotiv), ist durch die selbstgeschaffenen Grenzen nicht weiter steigerungsfähig. Seine Kategorie beginnt und endet mit ihm selbst; vorerst weil er sie zur höchsten Vollendung, zu einer Abrundung brachte; sodann, weil die selbstgestellte Aufgabe derart war, daß sie von einem Menschen allein bewältigt werden konnte. „Er gibt uns zugleich mit dem Problem auch die Lösung“, wie ich einmal von Mozart sagte. Die Wege, die uns Beethoven eröffnet, können nur von Generationen zurückgelegt werden. Sie mögen – wie alles im Weltsystem – nur einen Kreis bilden; dieser ist aber von solchen Dimensionen, daß der Teil, den wir von ihm sehen, uns als gerade Linie erscheint. Wagners Kreis überblicken wir vollständig. – Ein Kreis im großen Kreise.
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Der Name Wagner führt zur Programmusik zurück. Sie ist als ein Gegensatz zu der sogenannten „absoluten“ Musik aufgestellt worden, und die Begriffe haben sich so verhärtet, daß selbst die Verständigen sich an den einen oder an den anderen Glauben halten, ohne eine dritte, außer und über den beiden liegende Möglichkeit anzunehmen. In Wirklichkeit ist die Programmusik ebenso einseitig und begrenzt wie das als absolute Musik verkündete, von Hanslick verherrlichte Klang-Tapetenmuster. Anstatt architektonischer und symmetrischer Formeln, anstatt der Tonika- und Dominantverhältnisse hat sie das bindende dichterische, zuweilen gar philosophische Programm als wie eine Schiene sich angeschnürt.
Jedes Motiv – so will es mir scheinen – enthält wie ein Samen seinen Trieb in sich. Verschiedene Pflanzensamen treiben verschiedene Pflanzenarten, an Form, Blättern, Blüten, Früchten, Wuchs und Farben voneinander abweichend.[5]  Selbst eine und dieselbe Pflanzengattung wächst an Ausdehnung, Gestalt und Kraft, in jedem Exemplar selbständig geartet. So liegt in jedem Motiv schon seine vollgereifte Form vorbestimmt; jedes einzelne muß sich anders entfalten, doch jedes folgt darin der Notwendigkeit der ewigen Harmonie. Diese Form bleibt unzerstörbar, doch niemals sich gleich.
Das Klangmotiv des programmusikalischen Werkes birgt die nämlichen Bedingungen in sich; es muß aber – schon bei seiner nächsten Entwicklungsphase – sich nicht nach dem eigenen Gesetz, sondern nach dem des „Programmes“ formen, vielmehr „krümmen“. Dergestalt, gleich in der ersten Bildung aus dem naturgesetzlichen Wege gebracht, gelangt es schließlich zu einem ganz unerwarteten Gipfel, wohin nicht seine Organisation, sondern das Programm, die Handlung, die philosophische Idee vorsätzlich es geführt. Fürwahr, eine begrenzte, primitive Kunst! Gewiß gibt es nicht mißzudeutende, tonmalende Ausdrücke – (sie haben die Veranlassung zu dem ganzen Prinzip gegeben) –, aber es sind wenige und kleine Mittel, die einen ganz geringen Teil der Tonkunst ausmachen. Das wahrnehmbarste von ihnen, die Erniedrigung des Klanges zu Schall, bei Nachahmung von Naturgeräuschen: das Rollen des Donners, das Rauschen der Bäume und die Tierlaute; und schon weniger wahrnehmbar, symbolisch, die dem Gesichtssinn entnommenen Nachbildungen, wie Blitzesleuchten, Sprungbewegungen, Vogelflug; nur durch Übertragung des reflektierenden Gehirns verständlich: das Trompetensignal als kriegerisches Symbol, die Schalmei als ländliches Schild, der Marschrh thmus in der Bedeutun des Schreitens, der Choral als
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Träger der religiösen Empfindung. Zählen wir noch das Nationalcharakteristische – Nationalinstrumente, Nationalweisen – zum vorigen, so haben wir die Rüstkammer der Programmusik erschöpfend besichtigt. Bewegung und Ruhe, Moll und Dur, Hoch und Tief[6]in ihrer herkömmlichen Bedeutung ergänzen das Inventar. Das sind gut verwendbare Nebenhilfsmittel in einem großen Rahmen, aber allein genommen ebensowenig Musik, als Wachsfiguren Monumente zu nennen sind.
Und was kann schließlich die Darstellung eines kleinen Vorganges auf Erden, der Bericht über einen ärgerlichen Nachbar –  gleichviel ob in der angrenzenden Stube oder im angrenzenden Weltteile – mit jener Musik, die durch das Weltall zieht, gemeinsam haben?
Wohl ist es der Musik gegeben, die menschlichen Gemütszustände schwingen zu lassen: Angst (Leporello), Beklemmung, Erstarkung, Ermattung (Beethovens letzte Quartette), Entschluß (Wotan), Zögern, Niedergeschlagenheit, Ermunterung, Härte, Weichheit, Aufregung, Beruhigung, das Überraschende, das Erwartungsvolle, und mehr; ebenso den inneren Widerklang äußerer Ereignisse, der in jenen Gemütsstimmungen enthalten ist. Nicht aber den Beweggrund jener Seelenregungen selbst: nicht die Freude über eine beseitigte Gefahr, nicht die Gefahr oder die Art der Gefahr, welche die Angst hervorruft; wohl einen Leidenschaftszustand, aber wiederum nicht die psychische Gattung dieser Leidenschaft, ob Neid oder Eifersucht; ebenso vergeblich ist es, moralische Eigenschaften, Eitelkeit, Klugheit, in Töne umzusetzen oder gar abstrakte Begriffe, wie Wahrheit und Gerechtigkeit, durch sie aussprechen zu wollen. Könnte man denken, wie ein armer, doch zufriedener Mensch in Musik wiederzugeben wäre? Die Zufriedenheit, der seelische Teil, kann zu Musik werden; wo bleibt aber die Armut, das ethische Problem, das hier wichtig war: zwar arm, jedoch zufrieden. Das kommt daher, daß „arm“ eine Form irdischer und gesellschaftlicher Zustände ist, die in der ewigen Harmonie nicht zu finden ist. Musik ist aber ein Teil des schwingenden Weltalls.
Der größte Teil neuerer Theatermusik leidet an dem Fehler, daß sie die Vorgänge, die sich auf der Bühne abspielen, wiederholen will, anstatt ihrer eigentlichen Aufgabe nachzugehen, den Seelenzustand der handelnden Personen während jener Vorgänge zu tragen. Wenn die Bühne die Illusion eines Gewitters vortäuscht, so ist dieses Ereignis durch das Auge erschöpfend wahrgenommen. Fast alle Komponisten bemühen sich jedoch, das Gewitter in Tönen zu beschreiben, welches nicht nur eine unnötige und schwächere Wiederholung, sondern zugleich eine Versäumnis ihrer Aufgabe ist. Die Person auf der Bühne wird entweder von dem Gewitter seelisch
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