Die Unvergleichlichen
416 pages
German, Middle High (ca.1050-1500)

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Die Unvergleichlichen , livre ebook

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Description

Frühling 1899 - die zehnjährige Paula Ahrons kommt aus Berlin in Zürich an. Ihr Vater, ein kleiner jüdischer Kaufmann, träumt vom wirtschaftlichen Aufstieg. In Basel wächst zur gleichen Zeit Jenny Gass wohlbehütet als Tochter eines Privatbankiers auf. Während Paula nach dem Gymnasium zur Universität geht, um Ökonomie und Politik zu studieren, bewundert Jenny in London die gekrönten Häupter des alten Europas im Trauerzug von König Edward VII. Nur anderthalb Jahre später feiert sie eine grosse Hochzeit mit dem Basler Seidenbandfabrikanten Rudolf Frygermut. Derweil muss Paula Ahrons in Zürich ihr Studium abbrechen, weil der Vater die Familie nicht mehr ernähren will und kann. Von da an bestimmen drei Widersprüche Paulas Leben: das Engagement für Sozialismus und Kommunismus, die Brotarbeit als Sekretärin und die schwierige Liebe zum sieben Jahre jüngeren Genossen Christian Seiler. Auch Jenny Frygermut muss früh erkennen, dass vieles, woran sie fest geglaubt hat, erschreckend brüchig ist. Jede der beiden Frauen erlebt auf ihre Weise die Krisen, Kriege und gesellschaftlichen Umbrüche ihrer Epoche. Über ein halbes Jahrhundert hinweg verbindet allein die Zeit Paula Seiler und Jenny Frygermut. Bis ein Zufall Paulas Sohn und Jennys Tochter zusammenstossen lässt.

Informations

Publié par
Date de parution 18 mai 2015
Nombre de lectures 0
EAN13 9783859902374
Langue German, Middle High (ca.1050-1500)

Informations légales : prix de location à la page 0,1020€. Cette information est donnée uniquement à titre indicatif conformément à la législation en vigueur.

Extrait

Daniel Suter
Die Unvergleichlichen
edition 8

Daniel Suter
Die Unvergleichlichen
Parallelroman

Verlag und Autor danken herzlich der Stadt Zürich, Fachstelle Kultur, dem
und
für ihre Beiträge an dieses Buch.


Besuchen Sie uns im Internet: Informationen zu unseren Büchern und Autorinnen und Autoren sowie Rezensionen und Veranstaltungshinweise finden Sie unter www.edition8.ch

Bibliografische Informationen der Deutschen National-Bibliothek sind im Internet abrufbar unter http://dnb.ddb.de .

März 2015, 1. Auflage, © bei edition 8. Alle Rechte, einschliesslich der Rechte der öffentlichen Lesung, vorbehalten. Lektorat: Verena Stettler; Korrektorat: Max Trossmann; Typografie, Umschlag: Heinz Scheidegger; Druck und Bindung: freiburger graphische betriebe (fgb), Freiburg.
Verlagsadresse: edition 8, Quellenstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon +41/(0)44 271 80 22, Fax +41/(0)44 273 03 02, info@edition8.ch

E-Book: Schwabe AG, www.schwabe.ch

ISBN 978-3-85990-237-4


Das Ende
1968/1977
Zuerst starb der Fuss. Im Jahr vor ihrem Tod begann er vom grossen Zeh her zu faulen, doch keiner wusste es, bis Paula einmal von ihrer Schwiegertochter Edith irgendwo hingefahren wurde und es im Auto mit der Zeit zu stinken begann, immer abscheulicher, sodass Edith etwas gereizt fragte, ob Paula nicht aufgepasst habe und in etwas reingetreten sei, und Paula antwortete, es könnte vielleicht auch der wehe Fuss sein, worauf ihre Schwiegertochter sich näher erkundigte und schliesslich entsetzt sagte, Paula müsse damit sofort zum Arzt gehen. Aber da war der Brand schon so weit fortgeschritten, dass der Fuss auch im Krankenhaus nicht mehr gerettet werden konnte und das rechte Bein bis zum Knie hinauf amputiert werden musste. Mit einer Prothese lernte Paula im Alter von achtundsiebzig Jahren ein zweites Mal gehen. Das verlorene Bein spürte sie noch immer, besonders vom grossen Zeh, wo das Siechtum seinen Anfang genommen hatte, lebte ein seltsamer Schmerz weiter, der sie in den Nächten biss und stach und den die Ärzte Phantomschmerz nannten. Aber sie klagte nur wenig, und darum kam es auch für alle überraschend, als die Leiterin des Sanatoriums, in dem sich Paula nach dem monatelangen Spitalaufenthalt erholen sollte, anrief und mitteilte, man habe Frau Seiler am Morgen im Bett gefunden, mit einem entspannten Gesichtsausdruck, der darauf schliessen lasse, dass sie im Schlaf schnell und schmerzlos gestorben sei. Das Herz vermutlich; vielleicht auch ein Hirnschlag.
»Einen solchen Tod kann man sich nur wünschen«, sagte Kat, und Jan Seiler schloss sich in seinem Arbeitszimmer ein, um die Abdankungsrede auf seine Mutter zu schreiben, die von ihren Enkelkindern nur Grosse genannt wurde. Ein kurzes O wie Gosse, denn Grosse war nicht gross.
Für alle drei Kinder von Jan und Kat war es die erste Totenfeier; selbst David, der bald neunzehn wurde, hatte noch keine erlebt. Die Familie war klein, und über die engste Verwandtschaft hinaus pflegte man auf keine der beiden Seiten Beziehungen. In einer bangen Spannung, zu der auch die ungewohnte Beengung durch eine Krawatte beitrug, sass er mit seinen beiden Geschwistern hinten im gelben Austin, in dem sie nach Zürich fuhren, zum Krematorium Nordheim hinter dem Bucheggplatz, an der Rückseite des Käferbergs, einer bewaldeten Zwischenzone, wo die Stadt aufgehört und die Aussenquartiere noch nicht begonnen hatten.
Ein grauer Februartag, dünner Regen fiel, als sie schweigend den Weg vom Parkplatz hinauf zur Halle II schritten, einem kalten Betonbau, dem auch die abstrakten Farbsplitter der Fenster keine Wärme einhauchen wollten. Hinter den Eltern ging David bis zur vordersten Bank, wo die Familien der Söhne Jan und Robert Platz nahmen. In seinem Rücken sassen, locker über die Bankreihen verstreut, stille alte Frauen und Männer, die er noch nie gesehen hatte.
Verwandte? Freunde? Nachbarn?
Kein Pfarrer war anwesend, denn die Grossmutter war vor Urzeiten aus der Kirche ausgetreten. Während die Orgel irgendetwas Weltliches spielte, vermutlich Bach, fühlte David sich verpflichtet, seine Gedanken auf Grosse zu konzentrieren. Doch so sehr er sich auch bemühte, in angemessener Tiefe ihrer zu gedenken, stets kam ihm das Oberflächliche in die Quere. Ihre kleine, rundliche Gestalt, die kräftige Männernase, das struppige, weisse Haar und die vereinzelten Stoppeln, die ihr aus Backe und Kinn wuchsen und unangenehm kratzten, wenn man ihr einen Kuss geben musste. Und der etwas muffige Geruch ihrer Kleider, ähnlich dem Moderduft zwischen den Seiten antiquarischer Bücher.
Aber lieb war sie doch, sagte er sich, sie war doch die Güte in Person. Streit konnte sie nie ertragen, jedes Mal, wenn die Enkel sich zankten, versuchte sie mit hilflosen Appellen zu schlichten, weil sie selbst am meisten darunter litt. So lieb war sie, dass es schon wieder langweilig war, denn nie musste man von ihr Vorwürfe oder gar Tadel fürchten. Höchstens dass sie einmal beleidigt schwieg, aber das brauchte niemanden zu beunruhigen.
Bevor das mit ihrem Fuss passierte, war er einmal in der Woche bei ihr zum Essen gewesen. Er ging in Zürich ins Gymnasium, und da er weiter oben am See wohnte, reichte die Zeit nicht, um in der Mittagspause nach Hause zu fahren. Grosse hatte damals eine Wohnung im Zürcher Seefeldquartier, und obwohl sie schon fünfundsiebzig war, arbeitete sie noch jeden Vormittag als Sekretärin in einem Ingenieurbüro. Wenn er am Dienstag nach der Schule bei ihr an der Münchhaldenstrasse läutete, war sie schon am Kochen. Das Menü blieb immer das gleiche: paniertes Schnitzel mit Reis und grüne Erbsen aus der Büchse. Er hatte es sich so gewünscht. Müde sehe er aus, hatte Grosse nach dem ersten Essen bemerkt. Ob er sich nicht ein Viertelstündchen hinlegen wolle? Gerne liess sich David dazu überreden. So legte er sich bei jedem Besuch noch kurz auf die Couch und hörte mit mässig schlechtem Gewissen, wie sie draussen in der Küche das Geschirr spülte. Zu Hause hätte er abtrocknen müssen.
Dass Grosse einmal Kommunistin gewesen war, erfuhr er erst an der Abdankung, als der Vater in seiner Ansprache ihr Leben skizzierte und die aufopfernde Hilfsbereitschaft als ihren leuchtendsten Charakterzug bezeichnete. Am Ende der Feier stellten sich Jan und Robert mit ihren Familien beim Ausgang der Halle auf und nahmen etwas verlegen die Beileidsbekundungen der Gäste entgegen.
»Sie war mir wie eine Mutter«, sagte ein Mann unter Tränen und drückte Robert Seilers Hand innig.
»Ja, mir auch«, gab Onkel Robert zurück.
Selten hatte sie mit ihren Söhnen lachen können, deren Schlagfertigkeit sie nicht gewachsen war; und wenn sie lachte, dann bloss scheu, um ihnen einen Gefallen zu tun, die Hand vor dem Mund und die Augen niedergeschlagen, als schäme sie sich ein wenig, einem scharfen Witz nachgegeben zu haben. Völlig wehrlos war sie, wenn sich der Witz gegen sie richtete. Ihr fehlte die Gabe der Selbstironie, dazu war sie zu gutherzig, zu vernünftig, zu ernsthaft. Und zu pädagogisch. Als David mit sechzehn Jahren, um sein bedrohlich schwaches Französisch etwas zu stützen, in den Sommerferien in einen Sprachkurs nach La Neuveville geschickt wurde, wo er jeden Nachmittag im Bielersee badete und sich hoffnungslos in eine unerreichbar ältere Deutsche vom Loreley-Felsen verliebte, da schrieb ihm Grossmama Seiler ein Brieflein auf Französisch, mit didaktischen Fragen, die er nicht beantwortete, und wohlgemeinten Ermunterungen, die er sofort wieder vergass.
Von allen Geschenken, die sie ihm zweifellos gemacht haben musste, denn trotz ihrer bescheidenen Verhältnisse war sie grosszügig und gerecht, behielt er nur ein einziges in Erinnerung. Er war damals etwa zehn Jahre alt, und Grosse fuhr nach Amsterdam, um ihren ehemaligen Mann Christian zu besuchen, der Mitte der Dreissigerjahre nach Holland ausgewandert war, den ganzen Krieg, die deutsche Besetzung und zuletzt den Hungerwinter 1945 durchgemacht hatte und auch nach dem Tod seiner zweiten Frau nicht in die Schweiz zurückgekehrt war, sondern deren Cousine geheiratet hatte und in der Wohnung an der Oosterparkstraat sein kleines Kürschneratelier weiterführte, weil auch er es sich nicht leisten konnte, sich einfach zur Ruhe zu setzen. Vor ihrer Abreise fragte Grosse ihren Enkel, ob er sich aus Amsterdam etwas wünsche. Ja, holländische Holzschuhe. Anscheinend war es aber in Amsterdam nicht möglich gewesen, richtige Holzschuhe zu finden, vielleicht hatte sie auch seinen Wunsch zwischendurch vergessen und erst im letzten Moment wieder daran gedacht. Jedenfalls brachte sie ihm einen Miniaturholzschuh zum Aufhängen mit, darauf war eine bunte Windmühle gemalt, und im Schuh steckte eine kleine Kleiderbürste, in die »Holland« eingebrannt war. Damit konnte David so wenig anfangen, dass sich das Andenken über all die Jahre hinweg auf seinem Büchergestell unversehrt erhalten hatte. Später, als er zum ersten Mal in Amsterdam bei seinem Grossvater war, der immer leise sprach und dem Vater so verblüffend ähnlich sah, dass man sie von weitem für zwei ergraute Brüder hätte halten können, hatte er sich selbst echte, unbemalte Klompen gekauft; aber er konnte darin nicht gehen, sie scheuerten ihm den Fussrücken wund, und darum standen sie bald ungenutzt im Keller.
Nach der Abdankung waren die Trauergäste in ein nahes Restaurant zum Leichenmahl geladen. Es gab kalte Platten mit Aufschnitt und Käse, etwas Wein, und anschliessend Kaffee und Kuchen.
»Nein, keine Tischordnung. Wir haben provisorisch für zwanzig Leute reserviert, weil wir nicht wussten, wie viele – Robert, hier ist noch frei. Jan kommt auch gleich. Nein, Kinder, ihr setzt euch ein bisschen weiter unten hin. Wir müssen uns etwas verteilen.«
»Kat, kennst du alle hier?«
»Um Himmelswillen, Edith! Aber vielleicht du? Bei euch hat sie doch lange gewohnt.«
»Aber Besuch hat sie wenig bekommen. Unser Haus ist zu abgeleg

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