Diplom aktuell
80 pages
Deutsch
Le téléchargement nécessite un accès à la bibliothèque YouScribe
Tout savoir sur nos offres
80 pages
Deutsch
Le téléchargement nécessite un accès à la bibliothèque YouScribe
Tout savoir sur nos offres

Description

Universität Hannover Fachbereich Sozialwissenschaften Institut für Soziologie Diplomarbeit Geschichte, Gegenwart und Zukunft von essbaren Wildpflanzen am Beispiel der Engelwurz Birgit Brinkmann Diplom Sozialwissenschaften Inhalt 1. Einleitung...............................................................................................................5 2. Aspekte der Nutzung von essbaren Wildpflanzen .................................................6 2.1 Entstehung des Ackerbaus ...........................................................................6 2.2 Auswahlkriterien für Nahrungsmittel..............................................................9 2.2.1 Essbar oder nicht essbar?.................................................................9 2.3 Ausflug in die Kulturgeschichte der Ernährung in Europa .............................9 2.4 Anthropologie des Essens...........................................................................11 2.5 Die Bedeutung des Geschmacks für die Nahrungswahl .............................13 2.5.1 Sinne als kulturelle Instrumente ......................................................15 2.5.2 Riechen und Schmecken.................................................................15 2.5.3 Essgeschmack und Essgenuss.......................................................16 2.6 Die „richtige“ Ernährung ........................................................

Sujets

Informations

Publié par
Nombre de lectures 50
Langue Deutsch
Poids de l'ouvrage 1 Mo

Extrait

Universität Hannover Fachbereich Sozialwissenschaften Institut für Soziologie               Diplomarbeit Geschichte, Gegenwart und Zukunft von essbaren Wildpflanzen am Beispiel der Engelwurz                   Birgit Brinkmann  Diplom Sozialwissenschaften
 Inhalt
1. ...........5ngtu....Eieinl................................................................................................ 
2. Aspekte der Nutzung von essbaren Wildpflanzen .................................................6 2.1 Entstehung des Ackerbaus ...........................................................................6 2.2 Auswahlkriterien für Nahrungsmittel..............................................................9 2.2.1 Essbar oder nicht essbar?.................................................................9 2.3 Ausflug in die Kulturgeschichte der Ernährung in Europa .............................9 2.4 Anthropologie des Essens...........................................................................11 2.5 Die Bedeutung des Geschmacks für die Nahrungswahl .............................13 2.5.1 Sinne als kulturelle Instrumente ......................................................15 2.5.2 Riechen und Schmecken.................................................................15 2.5.3 Essgeschmack und Essgenuss .......................................................16 2.6  .........................Die „richtige“ Ernährung..................71................................. 2.6.1  .......Unsicherheit über die „richtige“ Ernährung.........................17.... 2.6.2 Wissenschaftliche Lehren von der „gesunden Ernährung“ ..............17 
3. Die Engelwurz, exemplarisch für die Gruppe der essbaren Wildpflanzen ...........20 3.1 Essbare Wildpflanzen in der Gegenwart .....................................................20 3.2  ........20Warum ausgerechnet die Engelwurz? Eine Spezies wird entdeckt … 3.3 Biologische Beschreibung ...........................................................................21 3.4 Zur natürlichen Verbreitung der Angelica archangelica in der Bundesrepublik Deutschland.......................................................................22 3.4.1 ndwaunergegshiscethc............................................................42...inE 3.5 Begrifflicher Einordnungsversuch der/ für die Engelwurz ............................24 3.5.1 Die Engelwurz – ein Neophyt? .....................................................2.4. 3.5.2 Die Engelwurz – ein Unkraut? ...............................25......................... 3.5.3 Die Engelwurz – ein Wildkraut?......................................................62 3.5.4 Die Engelwurz – ein Wildgemüse? ....................26............................. 3.5.5 Die Engelwurz – eine essbare Wildpflanze? ..............................2.6... 3.6  ..............................27Sprachwissenschaftliche Untersuchung der Engelwurz 3.7  ..................................................................28Kulturgeschichte der Engelwurz 3.8 Problematik der Nutzung von Engelwurz ....................................................29 
 
 
2
3.8.1 Die Inhaltstoffe der Engelwurz.........................................................30 3.8.2 Gesundheitliche Wirkungen der einzelnen Inhaltsstoffe (nach dem heutigem Wissensstand) .................................................................31 3.9 Heutige Verwendung der Engelwurz in Deutschland ..................................32 3.9.1 Verwendung im Gesundheitswesen ................................................32 3.9.2 Verwendung in der Kosmetikindustrie .............................................32 3.9.3 Verwendung in der Nahrungsmittelbranche ....................................32 3.9.4 Verwendung als Genussmittel.........................................................33 3.10 Engelwurz als Nahrungsmittel in anderen Ländern ..............................33Die  3.11 Der Geschmack von Engelwurz ..................................................................34 3.12 Die Engelwurz in der Landwirtschaft ...........................................................35 3.12.1 Anbau ..............................................................................................36 3.12.2 ....te..Ern................................................................................36.......... 3.12.3 Abnehmerbedingungen ...................................................................37 3.12.4 Wünschenswerter Anbau in der Zukunft..........................................37 3.13 Nutzung der Engelwurz in der Natur ...........................................................38 3.14 Die Engelwurz als gängiges Nahrungsmittel ...............................................38 
4. Essbare Wildpflanzen – Neue Wege der Nahrungsbeschaffung .........................39 4.1 Prozess des Umdenkens ............................................................................39 4.2  40Vielfalt und Reichtum der Natur versus Monotonie von Kulturlandschaften 4.3 Der Nutzen der Landschaft .........................................................................43 4.4 Zurück in die Zukunft/Lernen aus der Vergangenheit .................................43 4.5 Auch Kulturpflanzen haben mal wild angefangen .......................................46 4.6 Neue Wege der Ernährung .........................................................................47 4.7 Der gegenwärtige Wert der Ernährung .......................................................48 4.7.1 Anmerkungen zur gegenwärtigen Preisgerechtigkeit ......................49 4.7.2 Ernteerträge besser nutzen .............................................................49 4.7.3 Neue Werte für die Ernährung.........................................................50 4.8 Der Wert essbarer Wildpflanzen .................................................................51 4.8.1 Essbare Wildpflanzen im Vergleich zu Kulturgemüse .....................53 4.8.2 Essbare Wildpflanzen als Bereicherung der Nahrungsmittelvielfalt.54 4.9 Alternative, neue Mahlzeiten .......................................................................60 4.9.1 Richtig ernähren mit Convenience-Produkten? ...............................61 4.9.2 Food Design ....................................................................................63 4.9.3  .........................................................................63Regionale Produkte 
 
 
3
4.10 der Suche nach einem neuen GeschmackAuf  ...........................................63 4.11 Neue Technologien .....................................................................................64 4.11.1 Erntemethoden ................................................................................64 4.11.2  ...............................................................65Intelligente Verpackungen 4.12 Neue Infrastruktur .......................................................................................66 4.13 Neue Wege der Rohstoffbeschaffung .........................................................67 4.13.1 Dienstleistung als Erntehelfer..........................................................67 4.13.2 Nutzung von Ackerbegleitkräutern ..................................................67 4.13.3 Neue Rohstoffe für Lebensmittel .....................................................67 4.14 Regulative  ..........68Bestimmungen zur Nutzung von essbaren Wildpflanzen 4.15 Wünschenswerter landwirtschaftlicher Anbau nach heutigen ökologischen Maßstäben ..................................................................................................69 4.16 ................................................................Usm..ki............zuetspngblroatem07 
5. Schlussbetrachtungen .........................................................................................71 5.1 1............................7...................................unssfaen......g.................mmsaZu 5.2 Fazit und Ausblick .......................................................................................72 
 
 
4
 
1. Einleitung
Der alarmierende, gegenwärtige, globale Zustand der Erde erfordert dringend Konzepte für eine nachhaltige Entwicklung. Diese allgemeine Herausforderung, der sich Politik, Unternehmen und Gesellschaft zukünftig stellen müssen, beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, wie Gesellschaften ihren Umgang mit der Natur so gestalten können, dass auch zukünftige Generationen funktionierende Ökosysteme vorfinden. Auch hinsichtlich der Entwicklung einer nachhaltigen Ernährung gilt es Potentiale zu sichtbar zu machen. Zurzeit erfahren „Wildpflanzen“ weltweit eine erhöhte Aufmerksamkeit. In den letzten Jahrhunderten durch die Industrialisierung in allen Lebensbereichen zurückgedrängt, wird ihre Bedeutung erst in den letzten Jahren wiederentdeckt (z.B. Bärlauch), bzw. erst richtig erforscht (Heilpflanzen im Regenwald). Trotzdem stellen sich ihrer Nutzung vielfältige Hindernisse in den Weg. In der letzten Zeit wird viel über regionaltypische Produkte nachgedacht, die sich für nachhaltige Konzepte mit zukunftsweisender Bedeutung eignen würden. Für mich stellen die bei uns auf natürliche Weise wachsenden Pflanzen eine solche Möglichkeit dar. Eine Vielzahl der wild wachsenden Pflanzen könnte eine Ergänzung unserer Nahrungsmittel liefern. Wohl das gravierendste Hindernis dabei, ist der Geschmack. Besonders auf Süße und den Geschmacksträger Fett trainiert, fällt es schwer den mitunter eigenwilligen Geschmack von Wildpflanzen in unsere Konsumwelt einzubeziehen. Ein gutes Beispiel für die Bedeutung des Geschmacks ist die missglückte Vermarktung von Engelwurz (Angelica archangelica) als Nahrungspflanze. Die Engelwurz gehört zu den Doldengewächsen und kann über 2 m hoch werden. Sie ist eine der wenigen Wildpflanzen, die heute in Deutschland angebaut werden. Hierbei handelt es sich allerdings nur um den Anbau als Arzneipflanze. Wie bei vielen anderen essbaren Wildpflanzen ist auch bei der Angelica die alte Nutzung als Gemüsepflanze in Vergessenheit geraten. Dabei kann die Pflanze vom Samen über den Keimling bis zur ausgewachsenen Pflanze zu Nahrungszwecken verwendet werden (u. a. Fleischhauer, Steffen 2003: S.42). Der Versuch von der „Essbaren Landschaft, eines afu den Versand von Samen und Produkten essbarer Wildpflanzen spezialisierten Unternehmens, Produkte aus Engelwurz zu vermarkten, wurde mangels Nachfrage wieder eingestellt. Da es für mich nicht hinnehmbar ist, dass die Engelwurz, die besonders gut ökologisch verträglich angebaut werden kann, nicht die Chance bekommt, ihren Beitrag zur Ernährung zu leisten, möchte ich beispielhaft für die Gruppe der essbaren Wildpflanzen, die Situation der Engelwurz näher erläutern.
 
 
5
Zunächst erscheint es mit allerdings notwendig, ganz grundsätzlich einmal entscheidende Aspekte zur Voraussetzung einer Verwendung von Wildkräutern als Nahrungsmittel darzustellen. Dazu gehört erst einmal ein tiefer Blick in die Geschichte. Danach möchte ich die sozial- und kulturwissenschaftlichen Aspekte der Ernährungsforschung bezüglich des Geschmacks, des Geruchs und somit des Essgenusses herausarbeiten, um deutlich zu machen, wie stark der Wunsch, bestimmte Produkte zu essen oder nicht zu essen von außen bestimmt wird. Hauptgrundlage dafür ist die Soziologie des Essens, eine von Eva Barlösius erarbeitete, sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung. Im 3. Kapitel, werde ich dann exemplarisch für die Gruppe der essbaren Wildpflanzen, die Situation der Engelwurz näher ausführen. Beginnend mit der biologischen Beschreibung erachte ich es für notwendig, die natürliche Verbreitung und die unterschiedliche Auffassung der Engelwurz, die sich schon allein in der Differenziertheit der ihr gegenüber verwendeten Begrifflichkeiten ausdrückt darzustellen. Eine sprachwissenschaftliche und kulturgeschichtliche Untersuchung soll ihre heutige Stellung in der Gesellschaft klarer machen. Im Anschluss daran werde ich den Argumenten für und gegen die Verwendung der Engelwurz als Nahrungspflanze auf den Grund gehen. Dafür ist es notwendig auf die Inhaltstoffe und die damit zusammenhängenden Risiken einzugehen. Darauf folgt ein Überblick über die heutige Verwendung und näheres zu Anbau und Ernte, bevor ich schließlich auf die gegenwärtige Verwendung als Nahrungsmittel in Deutschland Bezug nehme. Im letzten größeren Kapitel versuche ich darzustellen, wie unsere Ernährung im Hinblick auf die angestrebte Ernährungswende der Zukunft allein unter Einbeziehung von essbaren Wildpflanzen bereichert werden könnte. Dazu ist es allerdings nötig auch andere wichtige Elemente, die mit der Nutzung von Wildpflanzen, aber auch mit der Entwicklung nachhaltiger Ernährungskonzepte zusammenhängen, eingehender zu betrachten. Hierzu wage ich unter anderem ungewöhnliche Blicke auf zukünftige Landschaften, Technologien und Nahrungsmittel. Die gesellschaftlichen Werte und Regelungen bilden den Rahmen für die künftige Rolle der Wildpflanzen und müssen deshalb als Komponenten miteinbezogen werden. Abschließend fasse ich die Ergebnisse zusammen und ziehe ein Fazit, bzw. gebe einen Ausblick in mögliche Zukunftswelten der Ernährung.
2. Aspekte der Nutzung von essbaren Wildpflanzen
2.1 Entstehung des Ackerbaus Seit der Vor- bzw. Urgeschichte der Menschen zogen unsere Vorfahren durch die Natur. Dabei lebten sie in kleinen Gruppen, in temporären Lagerplätzen. Sie lebten also primär nomadisch und führten eine „aneignendeWirtschaftsweise“. Jahrtausendelang ernährten sie sich von der Jagd, dem Fischfang und dem was sie in ihrer nächsten Umgebung an pflanzlicher Nahrung (Blätter, Triebe, Wurzeln, Früchte und Blüten) vorfanden. Dabei benötigte der Sammler der Steinzeit in
 
 
6
gemäßigten Klimazonen maximal 3 Stunden täglich um das Lebensnotwendigste zusammen zu tragen (Niklas, J.E. 1999: S.10). Das was die Menschen aßen diente ihnen gleichzeitig als Nahrung und Medizin. Ihr allgemeines Wohlbefinden wurde dabei ergänzt durch ihre wachsende soziale Kultur, die eine religiöse Weltanschauung, den Jagdzauber und andere Formen von Magie mit einbezog. In dieser so genannten Paläolithischen Ökonomie (Wirtschaftsweise der Altsteinzeit), nutzten die Menschen alles, was in der Natur als Lebensgrundlage zur Verfügung stand. Bereits im Jungpaläolithikum (Jungsteinzeit, ca. 4000 v. Chr.) tauchten die ersten Ansätze einer produzierenden Wirtschaftsweise auf. Dieses ging einher mit einer immer stärker werdenden Sesshaftigkeit. Aus noch nicht geklärten Gründen (Klimaveränderung, Nahrungsmangel, Bevölkerungsdruck oder einfach nur aus Gründen der Luxurierung) kam es in Ansätzen zu ortsfesten Freilandsiedlungen, in denen bereits natürliche, wertvolle pflanzliche und tierische Nahrungsvorkommen nachhaltig genutzt wurden. Diese Entwicklung begann wahrscheinlich mit der Ernte von Wildgetreide, von dem vermutlich auch ein Vorrat angelegt wurde, zunächst am natürlichen Standort. Später begann man auf zusätzlichen Flächen Getreide anzubauen. Irgendwann ging man dazu über, auch Tiere in der Nähe der Siedlung zu halten(vgl. u.a. hubert-brune.de/oekologie. 2009). Dies war der Beginn von Ackerbau und Viehzucht.  
 Hier sehen wir bereits eine fortgeschrittene Form des Ackerbaus  Diese Entwicklung verdrängte vorläufig nicht die Verwertung der Wildpflanzen, im Gegenteil: „Bei der Pflege der Kulturarten auf demFeld erntete man nebenbei die gehaltvollen Speise-„Unkräuter wie zum Beispiel Mlede und Franzosenkraut. Das 
 
 
7
Jäten und Hacken im Feldbau schuf offene Flächen für wiederkehrende frische Wildkräuter: Ein Erntegut, das über die Stetigkeit des Nutzens nachhaltig blieb. Das ganze Jahr wurde so neben dem Kulturgemüse eine wichtige und gesunde Zweiternte eingeholt“ (Fleischhauer, S. 2006: S. 10). Mindestens bis zum 10. Jahrhundert wurden landwirtschaftliche Flächen und unkultivierte Flächen gleichermaßen genutzt. Produkte vegetarischen Ursprungs gehörten in allen sozialen Schichten in Kombination mit tierischen Produkten zur gewohnten Nahrung. Das zahlenmäßig günstige Verhältnis zwischen Bevölkerung und Ressourcen ermöglichte eine ausreichende Versorgung durch die zusätzliche extensive Nutzung unkultivierter Flächen, die durch keinerlei Besitz- und Produktionsverhältnisse untersagt wurden. Hungersnöte waren klimatisch beeinflusst und betrafen zu dieser Zeit Produkte aus kultivierter und aus natürlicher Erzeugung gleichermaßen. Aber das änderte sich bald. In ganz Europa wurden umfangreiche Rodungs- und Kultivierungsaktionen vor allem durch Mönche initiiert. „ Der emsige Unternehmergeist der Mönche – in kurzer Zeit wurden ihre Häuser zu den reichsten und mächtigsten Orten Europas – kollidierte nicht nur mit der Jagdleidenschaft des Adels, sondern nicht selten auch mit den Interessen der bäuerlichen Welt selbst, die hartnäckig die unkultivierten Flächen nutzte“ (Montanari, M. 1999: S. 49). Seit dem 9. Jahrhundert wurden die bäuerlichen Gemeinschaften immer mehr ihrer autonomen Wirtschaftsweise enthoben und somit zum Spielball herrschaftlicher Macht und kirchlicher Ideologie, die in der herrschaftlichen Aneignung von Nutzungsrechten am unkultivierten Land gipfelte. Parallel dazu wurde im Zuge von steigenden Bevölkerungszahlen mehr Ackerland benötigt. Zunächst wurden zwar vorwiegend die als Hudewälder1genutzten Waldgebiete erhalten, doch in Mittel- und Südeuropa wurden dort auch zunehmend Esskastanien angepflanzt, die eine gute Alternative zu Getreide darstellen, um die wachsende Bevölkerung ernähren zu können. Doch war die Entstehung des Ackerbaus wirklich gekoppelt an eine Abhängigkeit der Bevölkerungsgröße vom Nahrungsmittelspielraum? Viele kurzfristige Hungersnöte wurden weniger durch Produktionsgrenzen, als vielmehr durch soziale und ökonomische Prozesse ausgelöst (Barlösius, E 1999: S.12 ff.). In der Vergangenheit wurden Hungersnöte wissenschaftlich vor allem mit einer nicht ausreichend vorhandenen Nahrungsmenge begründet. Dagegen spricht, dass die den Bauern aufgezwungene Art der Landbewirtschaftung priviligierte Gruppen auch in Notzeiten mit besonderen Nahrungswünschen zufrieden stellen konnte, während die übrige Bevölkerung hungerte. Die Zuteilung der Nahrung war somit immer auch Ausdruck sozialer Ungleichheit. Dies gilt im Übrigen schon solange der Mensch in sozialen Gruppen zusammen lebt. Das Teilen der Nahrung unterlag schon immer hierarchischen Regeln, in Kleingruppen waren diese Vorgänge von den einzelnen Mitgliedern allerdings schneller und leichter nachzuvollziehen. Die Distribution der Nahrung symbolisiert gleichzeitig die Gemeinschaft der Gruppenmitglieder in der auch die Schwächeren mitversorgt werden und gilt daher schon seit der Antike als Beginn der menschlichen Zivilisierung (vgl. ebenda). Für die Art der Nahrungsmittel, die in der Geschichte genutzt wurde, waren ebenfalls die hierarchischen Regeln zuständig. Sie bestimmten, ob und wer Nahrung aus der Natur nutzen durfte oder nicht.
                                                 1in denen Eicheln und anderes Tierfutter vorkam und in die Tiere zu Weidezwecken getrieben Wälder wurden
 
 
8
2.2 Auswahlkriterien für Nahrungsmittel
2.2.1 Essbar oder nicht essbar? Die Nahrungsaufnahme ist ein körperliches Grundbedürfnis des Menschen – ohne das Essen ist menschliches Leben auf Dauer nicht möglich. Die Befriedigung dieses Bedürfnisses erfolgt allerdings auf sehr vielfältige Weise, so dass sich darin nicht nur eine körperliche Dimension ausdrückt, sondern es strahlt hinein in fast alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Eva Barlösius bezeichnet die dabei ausgewählten Nahrungsmittel als kulturelle und soziale Zeichen denn nicht alles was wir essen könnten wird auch gegessen. Aber was ist denn nun wirklich essbar und was nicht? Eins steht fest, nicht alles, was den Menschen umgibt ist auch essbar. Einiges hat eine toxische Wirkung auf den Organismus, einiges ist unverdaulich. Dennoch hat der Mensch in der Vergangenheit immer wieder Mittel und Wege gefunden, Dinge zu sich zu nehmen oder gar als Nahrungsmittel zu nutzen, die auf den ersten Blick nicht essbar sind. Metalle, wie z. B. Gold werden in kleine Flöckchen geklopft und gelten als Luxusnahrungsmittel (Danziger Goldwasser), Mineralien werden pulverisiert und als wertvolle Nahrungszusätze genutzt und sogar giftige Tiere und Pflanzen werden so aufbereitet, dass sie den Menschen ernähren. So existiert auf Island noch heute die Tradition, zu Weihnachten als Festtagsessen Rochen zuzubereiten. Rochen, wie auch Haie, können normalerweise nicht gegessen werden, da sie keine Nieren haben, und sich deshalb der Körper mit Harnsäure anreichert. Doch offensichtlich sind schon die Wikinger in Hungerzeiten auf die Idee gekommen, den Rochen einzugraben und Monate später noch einmal zu überprüfen, ob man ihn nicht doch inzwischen essen könnte. Durch eine Art Milchsäuregärung wandelte sich der giftige Rochen tatsächlich in etwas essbares, dem misc aus faulen Eiern, faule lma uFti sBcehs, cKhlroeiabkue,n gSecnh vwoeinß fAünßweens uenndd evne reginaem Gmeerltuecmh sKäse heunntsgtrömte2. Die Essbarkeit von Speisen ist somit einzig und allein abhängig von der Art der Dosierung und von geschmacklichen und moralischen Grenzen. Diese Grenzen sind nur selten natürlich festgelegt, sie sind kulturell erzeugt. Die kulturellen Festlegungen, was in einer Gesellschaft essbar ist und was nicht, ist mehr oder weniger systematisch in Essregeln zusammengefasst (vgl. Barlösius, E. 1999: S.92).
2.3 Ausflug in die Kulturgeschichte der Ernährung in Europa Warum ernähren wir bei uns in Deutschland anders als an anderen Orten der Welt? In der Vergangenheit hatten viele Ereignisse Einfluss auf unsere Ernährungsweise und vor allem auf die Auswahl unserer Nahrungsmittel. Kaum eines unserer heutigen Nahrungsmittel stammt aus der Natur, die meisten sind das Produkt der gezielten Züchtung durch den Menschen. Warum ist das so? Die folgenden Ausführungen sollen einen Einblick in die Entwicklungszusammenhänge geben.
                                                 2auch der schwedische Surströmming. Hier wird Hering direkt in Dosen Ähnlich erzeugt wird vergoren, die fast kugelig aufgeblähten Dosen werden meist im Freien und unter Wasser geöffnet trotzdem haftet der Geruch der Wohnung, der Kleidung und dem Konsumenten noch tagelang an, so das Uneingeweihte schon die Polizei riefen, in der Annahme der Nachbar sei verstorben.
 
 
9
„Die römische Kultur hatte, wie die griechische, der unbearbeiteten Natur keine große Wertschätzung entgegengebracht. In dem von griechischen und römischen Gelehrten aufgestellten Wertesystem war sie kaum berücksichtigt. Sie war vielmehr die wahre Antithese zur Zivilisation – ein Begriff, der seinerseits auch etymologisch mit dem der Civitas – oder: derStadt– verbunden ist.“ (Montanari, M. 1999: S. 15). Die Nutzung unkultivierter Flächen, beispielsweise die der Wälder und Sümpfe, existierte somit in diesen Kulturen nur als Randerscheinung, sie war eine Art von der damaligen Literatur aus ideologischen Gründen „verschleierte“ Realität. Selbst die kaiserlichen Jagden dienten eher dem Sammeln von Trophäen als der Versorgung der Tafeln. Als wichtigste Nahrungsquellen dienten Korn, Wein und Ölbäume, ergänzend kamen Obst- und Gemüseanbau, Schafzucht3hinzu, wobei die Schafe vorwiegend als Milch- und Wolllieferanten dienten. Diese vorwiegend vegetarisch ausgerichtete Ernährungsweise in dessen Zentrum sich das Brot und dessen Erzeugung befand, stand im krassen Gegensatz zu den Anbaumethoden und kulturellen Werten der keltischen und germanischen Völker. Die „Barbaren“, wie sie von den Griechen und Römern genannt wurden, hatten eine große Vorliebe für die Nutzung unberührter Natur und unkultivierter Landschaft. Die Jagd, die Fischerei, die Zucht wildlebender Tiere in den Wäldern und das Sammeln wilder Früchte und Kräuter bildeten ihre Lebensgrundlage. Butter und Speck waren ihre wichtigsten Fette, beliebte Getränke waren Milch und Bier, aus Getreide, das man auf kleinen Waldlichtungen anbaute. Die zentrale Rolle, um die sich Mythen rankten, Sinnbild für produktive und kulturelle Errungenschaften, übernahm hier das Schwein. So sehr sich die Ernährungsweise von Römern und Germanen auf den ersten Blick unterschied: zur Verfügung standen ihnen prinzipiell ähnliche Rohstoffe. Was am Ende wie verzehrt und verehrt wurde war letztendlich geprägt von den gesellschaftlichen Normen jener Zeit und der jeweiligen Kultur. Was ein Volk nach Auffassung der Römer in den Bereich der Zivilisation einordnete, war einzig und allein sich aktiv in die Nahrungsproduktion einzuschalten. Was den Menschen vom Tier unterschied, das nur empfängt, was die Natur zur Verfügung stellt, war die künstliche Erzeugung von Nahrung, die Erfindung von etwas „Neuem“. Doch das änderte sich bald. „Das politische und soziale Durchsetzungsvermögen der germanischen Stämme, die – unter unterschiedlichen Bedingungen und in verschiedenerlei Ausmaß – überall zur herrschenden Schicht des neuen Europa geworden waren, führte zu einer weiten Verbreitung ihrer Kultur und Geisteshaltung“ (Montanari. M. 1999: S. 23). Aus der unkultivierten Natur wurde ein wichtiger Nutzungsraum. Besonders die Berechnungsart der Ausdehnung der Wälder anhand der Menge an Schweinen zu berechnen, die sich dort mästen ließen, spricht für sich. Trotz allem kam es zwischen dem 5. und 6. Jahrhundert zu einer sukzessiven Annäherung der Kulturen. „In den Gebieten Mittel und Nordeuropas übernahmen hauptsächlich die oberen Schichten, Laien und Kleriker, die „Mode“ von Brot, Wein und Öl. Die niederen Schichten blieben mit größerer Festigkeit ihrer traditionellen Ernährung verhaftet“ (Montanari, M. 1999: S. 42). „Umgekehrtglichen in den Gebieten, die erst kürzlich der Macht und Kultur der germanischen Völker unterworfen worden waren, vor allem die oberen Schichten ihren Lebens- und Ernährungsstil den neuen                                                  3vor allem in den Küstenregionen die Fischerei als natürliche Ressource  
 
 
10
Gegebenheiten an, indem sie die Jagdleidenschaft und den hohen Fleischverbrauch übernahmen, während die unteren Schichten der herkömmlichen Ernährungsweise verbunden blieben: Das Bild des „armen“ Gemüseessesr, das uns in zahlreichen literarischen Texten jener Zeit überliefert wurde, ist nicht bloß eine ideologische Konstruktion“ (ebenda). Dieses Bild bleibt noch lange Zeit erhalten. Die Kochkunst als Summe aller Herstellungsverfahren von Nahrung gehört zwar zu den ältesten Kulturtechniken des Menschen, wurde allerdings, wie die meisten alltäglichen Verrichtungen in der Regel nur mündlich weitergegeben. Die schriftlichen, historischen Quellen auf die Wissenschaftler diesbezüglich zurückgreifen können, sind daher entweder Beschreibungen von Prunkmählern oder die gemeinhin angestrebte Ernährungsweise antik-mittelalterlicher Gesundheitslehren, die jedoch nur sehr wenig über die tatsächliche tägliche Ernährungsweise wiedergeben. Ende des 16.Jh. entstand die so genannte „Hausväterliteratur“, die,wie die sehr ähnliche „Hausmütterliteratur immer noch medizinische Diätteik und Kochbuchliteratur vereint. Im ausgehenden 18.Jh. wurde in dieser Literatur mit dem Aufkommen bürgerlich-obrigkeitlicher Armenpflege gelegentlich auch auf billige Speisen und Lebensmittelsurrogate, beispielsweise wild wachsende Gemüse, Salate, Gewürzpflanzen und Kaffeeersatz hingewiesen (Teuteberg, H.J.; Wiegelmann, G. 2005: S. 27). Auf der anderen Seite spielten Kräuter und Gewürze besonders im Mittelalter eine große Rolle. Da Salz sehr teuer und Zucker zunächst selbst in den Oberschichten unbekannt war, war die Kochkunst ohne sie relativ eintönig, außerdem überdeckten sie geschmacklich die mangelnden Konservierungsmöglichkeiten (ebenda: S. 33/34). Im Gegensatz dazu bezeichnet Montanari Kräuter als die Gewürze der Armen (Montanari, M. 1999: S. 83). Ganz allgemein reicht die Bandbreite der Nahrungsgewohnheiten noch heute von einfachen Völkern, die mit einfachen Getreidebreien glücklich sind, über Gesellschaften, die vorwiegend Alltags- und Festtagsküchen, geschlechts- oder altersspezifische Koch- und Essstile unterscheiden, bis hin zu komplexen Gesellschaftssystemen, deren Nahrungsmittel- und Zubereitungsvielfalt in ständiger Expansion begriffen ist (vgl. Barlösius, E. 1999). Prinzipiell handelt es sich beim Menschen trotz allem um „ein prinzipiell frei seine Kost wählendes Individuum, das“ beginnt „seinen Geschmack bei der Nahrungsauswahl ausschließlich nach Einkommenslage, regionaler Umgebung, sozialem Prestige und kommerzieller Werbung auszurichten“ (Teuteberg, H.J.; Wiegelmann, G. 2005: S. 27).
2.4 Anthropologie des Essens Ich möchte in den folgenden Abschnitten die sozial- und kulturwissenschaftlichen Aspekte der Ernährungsforschung bezüglich des Geschmacks, des Geruchs und somit des Essgenusses herausarbeiten, um deutlich zu machen, wie stark der Wunsch, bestimmte Produkte zu essen oder nicht zu essen von außen bestimmt wird. Ich werde mich dabei eng an die Arbeit von Eva Barlösius, die unter dem Titel „Soziologie des Essens“ erschienen ist, anlehnen, da ich diese komplexe Thematik dort für mich sehr gut nachvollziehbar erarbeitet fand.
 
 
11
  • Univers Univers
  • Ebooks Ebooks
  • Livres audio Livres audio
  • Presse Presse
  • Podcasts Podcasts
  • BD BD
  • Documents Documents